The
'Reflections on History, its
Uncertainty and Uselessness' (1806/08) written by the Italian historian,
economist, philosopher and politician Melchiorre Delfico (1744-1835) represent a
late example of historical pyrrhonism. Taking up what Enlightenment philosophers
and historians had written about progress and history as well as about the
impasses of historiography and historical methodology, Delfico tries to
reanimate historical scepticism. As he supports contemporary scientism and
advocates natural science standards, his epistemology strictly denies the
scientific status of history. Furthermore, according to Delfico, history has
neither a political nor a moral lesson to give.
Avec ses
'Réflexions sur l'histoire, sur
son incertitude et inutilité' (1806/08), the Italian Melchiorre Delfico
(1744-1835), historien, économiste, philosophe et homme politique, se présente
comme épigone du pyrrhonisme historique. Il s'inspire des théories qu'avaient
proposées les 'philosophes', en renouant non seulement avec leurs théories du
progrès, mais aussi avec leur scepticisme historique, leur critique de
l'histoire et de l'historiographie et en reprenant leurs réflexions
méthodologiques. L'épistémologie de Delfico, axée sur le scientisme contemporain
et sur le modèle des sciences naturelles, refuse au discours historique le
statut de science. L'histoire, selon Delfico, ne saurait même servir de
'magistra vitae'.
I. Um 1800
Als Melchiorre Delfico (1744-1835)
1806 seine skeptizistischen Pensieri su l'Istoria e
sull'incertezza ed inutilità della medesima [Gedanken über die
Geschichte, ihre Ungewissheit und Nutzlosigkeit] niederschrieb, war der
Historische Pyrrhonismus, der fast hundert Jahre zuvor seinen Höhepunkt erreicht
hatte, seit Jahrzehnten verblasst. Das humanistisch geprägte Ideal historischer
Erudition war erodiert (1), und nicht zuletzt in Folge der crise
pyrrhonienne hatte sich eine kritische Geschichtswissenschaft formiert. Die
alte Gelehrtenrepublik hatte sich aufgelöst, ein neues Wissens- und
Wissenschaftssystem differenzierte sich aus. Parallel dazu etablierte sich am
Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in Frankreich eine
positivistisch-melioristische Wissenschaftsgeschichte, für die der Historische
Pyrrhonismus allenfalls noch antiquarische Bedeutung haben konnte. Maßgebliche
Repräsentanten der spätaufklärerischen Geschichtsphilosophie hatten diese in
einer Weise ironisch demontiert (2), die man als späten Erfolg und rhetorischen
Vollzug des Historischen Skeptizismus auffassen könnte.
Vor diesem komplexen Hintergrund
und unter dem Eindruck der tiefgreifenden Modifikationen des Zeit- und
Geschichtsbewusstseins, die die Französische Revolution ausgelöst hatte,
entfaltete Delfico im Milieu der süditalienischen Spätaufklärung einen
epigonalen Historischen Pyrrhonismus, um die Wissenschaftlichkeit der
Geschichtsschreibung in einem naturwissenschaftlich-positivistisch geprägten
Wissenschaftssystem zu bestreiten: ein in vielem anachronistisches und
problematisches Unterfangen.
II. Melchiorre Delfico, l'homme
et l'œuvre
Melchiorre Delfico ist hierzulande
bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden (3), obwohl sein Œuvre und sein
praktisches Wirken für Geschichtswissenschaft und ästhetische Thorie auch
hierzulande interessant sein könnten: für Letztere vor allem Delficos
ästhetische Schrift Nuove ricerche sul bello (1818)
(4), für Historiker neben seiner Schrift Pensieri su l'Istoria
und neben seinen Studien über die Geschichte San Marinos (Memorie
storiche della Repubblica di San Marino)
und die römische Rechtsgeschichte sowie seinen späten Machiavelli-Kommentaren
auch die politische Rolle, die Delfico aus der Distanz in der Parthenopäischen
Republik gespielt hat, dann seine Karriere im bonapartistischen Regime und
schließlich seine mögliche Teilnahme an der bonapartistischen Verschwörung im
Mai 1814, die Napoleon als Herrscher über ganz Italien inthronisieren sollte
(5). Aber auch als Ökonom und als einer der wichtigsten Repräsentanten des
italienischen neo-naturalismo (6) und Sensualismus, mit
einem dokumentierten Interesse an der Philosophie Kants (7), darf Delfico
Aufmerksamkeit beanspruchen.
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Abb. 1:Melchiorre Delfico (1744-1835) |
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Die Absenz Delficos in der
deutschen Forschung mag freilich unter anderem durch den Umstand bedingt sein,
dass die 1901 bis 1904 in vier Bänden in seinem Geburtsort Teramo in den
Abruzzen erschienene Ausgabe seiner Werke in Deutschland wohl nur an einer
Stelle, nämlich in der Berliner Staatsbibliothek, verfügbar ist (8). Die 1806
entstandenen Pensieri su l'Istoria e
sull'incertezza ed inutilità della medesima -
ihr ursprünglicher Titel lautete: Esame della Storia, e
dei suoi vantati pregi [Untersuchung der
Geschichte und ihrer viel gepriesenen Vorzüge] (9) - erschienen 1808
(10) in erster Auflage in Forlì und 1809 und 1814 in Neapel in jeweils
überarbeiteter Neuauflage. Die in der erwähnten Werkausgabe abgedruckte Fassung
trägt zwar das Titelblatt der Erstausgabe Forlì 1808, basiert aber de
facto auf den späteren Ausgaben (11). Franco Venturi, der viele
Zeitgenossen Delficos im secolo dei Lumi vor dem
Vergessen-Werden bewahrt hat, hat darauf hingewiesen, dass sich im
unveröffentlichten Nachlass Delficos noch zahlreiche Aufzeichnungen und
Lektürenotizen finden, die die Entstehungsgeschichte der Pensieri su
l'Istoria dokumentieren (12).
Vor Franco Venturis Edition von
Auszügen aus Delficos Schriften, darunter auch einiger Seiten aus seinen
Pensieri, in dem Band Riformatori napoletani, 1962 zuerst
erschienen, einer Quellenanthologie, die von einem schönen biografischen Porträt
Delficos begleitet wird, hatte Giovanni Gentile im ersten Band seiner Storia
della filosofia italiana dal Genovesi al
Galluppi in einem ausführlichen Kapitel an Delfico erinnert (13). Ihm
galt Delfico als "der getreueste Repräsentant des französischen Geistes des 18.
Jahrhunderts" (14); sein Urteil über Delficos Pensieri war
ambivalent: "[...]
so ist auch der Schluss dieses bizarren Buches materialistisch, eines Buches,
das in seinem theoretischen Teil von so geringem Wert ist [...], das aber
philosophiegeschichtlich bemerkenswert ist, und das nicht nur, was Italien
betrifft" (15) Giovanni Gentiles teilweise harschem Urteil über Delfico als
einen stark von den philosophes beeinflussten, epigonalen und radikal
materialistischen Denker ist mittlerweile oft widersprochen worden.
Delficos Pensieri su
l'Istoria, die von den Zeitgenossen durchaus beachtet und auch mehrfach
widerlegt wurden, (16) sind gerade in den letzten Jahren von der italienischen
Forschung mehrfach neu gewürdigt, sein vermeintlicher antistoricismo (17)
französischer Provenienz ist differenzierter beurteilt und im zeitgenössischen
italienischen Kontext verortet worden. Besonders entschieden hat sich Gabriele
Carletti in einer 1996 erschienenen Monografie über Delfico gegen Gentiles
Verurteilung der Pensieri als Ausdruck eines planen antistoricismo
gewandt (18). Mittlerweile liegen mehrere neuere Beiträge über Delfico vor, der
in jungen Jahren noch vom Geist Genovesis geprägt wurde und sich, wie etwa
Vincenzo Ferrone gezeigt hat, als junger Mann in den freimaurerischen Kreisen
des vorrevolutionären Neapel bewegte (19). Politikgeschichtlich hat man Delfico
im Kontext des süditalienischen Reformismus und Rousseauismus situiert, so etwa
Giulio Gentile, der sich dann auch dem späten Delfico und seinen Osservazioni
sul Machiavelli [Betrachtungen über Machiavelli]
zugewandt hat (29). Unter den einschlägigen Forschungsbeiträgen (21) ragt eine
ausführliche Studie von Umberto Carpi aus dem Jahre 1992 heraus (22). Carpi, der
ein Panorama der politischen Geschichtsphilosophie in Italien um 1800
präsentiert, markiert den politisch-historischen Standort Delficos, sein
Verhältnis zu bedeutenden süditalienischen Zeitgenossen wie Pagano und Galanti,
und er diskutiert, neben zahlreichen französischen, auch die italienischen
Quellen der Pensieri su l'Istoria und deren Stellenwert
innerhalb des Gesamtwerks Delficos. Für Carpi sind historischer Pessimismus und
geschichtstheoretischer Skeptizismus Delficos wesentlich miteinander
verflochten. Im Gegensatz zu Carletti zögert Carpi auch nicht, von einem
gewissermaßen erfahrungsgesättigten und erfahrungsmüden "geschichtsfeindlichen
Pessimismus [pessimismo antistoricistico]" Delficos zu sprechen (23), der seine
Sichtweise der storia im doppelten Wortsinne präge.
Was die Stellung von Delficos
Pensieri su l'Istoria e sulla incertezza
ed inutilità della medesima innerhalb seines Œuvres
betrifft, so zeichnet sich schon in seinem Elogio del Marchese
D. Francescantonio Grimaldi aus dem Jahre 1784 Skepsis
gegenüber einer rein chronikalischen Geschichtsschreibung, der Faktenreihung
einer histoire événementielle ab (24). Seine 1791 erschienenen
Ricerche sul vero carattere della
giurisprudenza romana e dei suoi cultori
[Forschungen über den wahren Geist der
römischen Jurisprudenz und ihrer Vertreter],
"voll heftigem Hass gegen das Römische", wie Venturi anmerkt (25), setzen dem,
was ihm als Mythos des römischen Rechts erscheint, mit eben jener Schärfe zu,
mit der er im vierten Kapitel der Pensieri su l'Istoria mit
der Geschichte und der Geschichtsschreibung der römischen Republik abrechnet.
Auch findet der sog. pessimismo antistoricistico der Pensieri
in einigen Aphorismen der Delficina, einer Aphorismensammlung, die
Delfico hinterlassen und in der er seine Grundüberzeugungen protokolliert hat,
seinen Niederschlag (26).
Offensichtlich problematisch ist
das Verhältnis seiner geschichtsskeptischen Pensieri su
l'Istoria zu seinen kurz zuvor im Exil in San Marino entstandenen, 1804
zuerst erschienenen Memorie storiche della Repubblica
di San Marino [Historische Erinnerungen an
die Republik San Marino]. Behauptet er nämlich in
den Pensieri, es sei unmöglich, zur Erkenntnis über geschichtliche
Sachverhalte zu gelangen, und es sei unnütz, Geschichte zu schreiben, zu
tradieren, so widerlegt er in seiner Geschichte der Republik San Marino
praktisch seinen geschichtstheoretischen Skeptizismus ebenso wie er seinen
vermeintlichen historischen Pessimismus durch die Geschichte San Marinos
konterkariert, die gewissermaßen eine kleine republikanische Erfolgsgeschichte
ist. In San Marino, wo Delfico in selbst gewähltem Exil zwischen 1799 und 1806
lebte, sei er, enttäuscht von der Politik und der großen Geschichte müde, auf
einen "historischen Stoff " gestoßen, der, so schreibt Carpi (27), "unversehrt
von den Bildern des Chaos" gewesen sei, und er habe dort zu einer Form von
Geschichtsschreibung gefunden, in der sich das fragile Selbstverständnis des
Genres in dieser Epoche spiegele: "Delficos Geschichtsschreibung ist, im Ganzen
gesehen, nicht wirklich bedeutend. Doch in ihrer unlösbaren Spannung zwischen
'politischer Skepsis' und der Suche nach einer 'Form der bürgerlichen
Vereinigung [...], die es bisher nur in Utopien gegeben hat', ist sie
schließlich exemplarisch für jene Epoche 'allgemeiner Auflösung von Republiken
und Imperien'. Sie ist vielleicht auch in ihren Schwächen beispielhaft, aber
jedenfalls nicht beispielhaft unreflektiert."(28). In seinen Pensieri
su l'Istoria, in denen Delfico u.a. gegen die gerade in Italien
proliferierenden Regionalgeschichten zu Felde zieht, hat er seine der eigenen
geschichtsskeptischen Theorie zuwiderlaufende historiografische Praxis in den
Memorie storiche della Repubblica di San
Marino mit folgenden Worten gerechtfertigt: "Wenn irgendjemand mich
fragen würde, warum ich in diesem Genre, das ich missbillige, etwas geschrieben
habe, so würde ich gleich antworten, dass die Einzigartigkeit des Gegenstandes
eine Ausnahme davon bildete. Tatsächlich war eine winzige Republik wie die von
San Marino, die über Jahrhunderte ihre politische Form und Unabhängigkeit
gewahrt hatte, ein interessantes Phänomen für Gelehrte und Politiker; und
niemand hatte die entsprechende Neugier bisher je befriedigt."(29) ( A 1)
Das Exil in San Marino war auf
Grund der politischen Exterritorialität für Delfico eine ideale Freizone (30),
in der er einerseits die Pensieri in ruhiger Abgeschiedenheit von den
Zeitläuften schreiben und andererseits seine politische Skepsis und
Geschichtsmüdigkeit überwinden konnte, indem er die erste und einzige umfassende
Geschichte dieser politischen Enklave verfasste, der kleinen, aber langlebigen
freien Republik San Marino, als deren stolzen Bürger ihn das Titelblatt der
Erstausgabe seiner Pensieri su l'Istoria auswies. San
Marino ist unbeschädigt von der Geschichte, "hat seine politische Gestalt
unbeschädigt erhalten, [ha
conservata illesa la sua forma politica]", ist eine Enklave in der aggressiven
und zerstörerischen Welt der Geschichte. So darf und muss Geschichte in diesem
Fall geschrieben werden, und so kann Geschichte in diesem Fall sogar noch einmal
vorbildlich sein (31).
In den Pensieri su
l'Istoria hingegen legt Delfico, dem man übrigens in diesen Jahren einen
Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Bologna antrug, den er aber
ausschlug (32), in extenso dar, dass die storia ungewiss
und ohne Nutzen sei: Weder liefere sie taugliche moralische oder politische
Vorbilder noch sei gesichertes historisches Wissen und dessen kritische
Überlieferung in der Geschichtsschreibung möglich. Den geschichtsphilosophischen
Argumentationsstrang seiner Pensieri aufgreifend, hat Delfico im Übrigen
kurz vor seinem Tod noch einen geschichtsphilosophisch-vichianisch gefärbten
Essay geschrieben, der aber nur in Teilen überliefert und bisher noch nicht
ediert ist (33).
Im Anschluss an eine knappe
Rekonstruktion der Einflüsse, denen Delficos Geschichtsdenken sich verdankt
(III.), soll im Folgenden Delficos Argumentation in groben Zügen
zusammengefasst werden (IV.), soweit dies angesichts der Unübersichtlichkeit und
der Aspektvielfalt des Argumentationsgangs möglich ist. Zwei Linien sind
freilich deutlich durchgehalten: Zum einen tritt – die schon im Titel
ausgewiesene Ungewissheit der Geschichte betreffend - die Linie unverkennbar
hervor, die an den Historischen Pyrrhonismus des späten 17. und frühen 18.
Jahrhunderts anschließt und Delfico gewissermaßen als späten Erben der
maßgeblich von Carlo Borghero und Markus Völkel (34) beschriebenen Familie der
Historischen Pyrrhoneer/Pyrrhonisten (35) erscheinen lässt. Zum anderen
manifestiert sich seine schon im Titel artikulierte Überzeugung von der
Nutzlosigkeit der Geschichte als Kritik an ihrer vermeintlichen
politisch-juridisch-moralischen Instruktivität und situiert sich so in der von
Reinhart Koselleck gezogenen Linie des sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts
auflösenden Topos der Historia Magistra Vitae (36).
Die semantische Ambivalenz des
Begriffes Storia als Vergangenheit und als Diskurs über die Vergangenheit
durchzieht Delficos geschichtsskeptische Betrachtungen, die, so ist abschließend
zu zeigen, die Möglichkeit einer Wissenschaft von der
Geschichte/Geschichtsschreibung ausgerechnet auf der Grundlage der
szientistischen Annahme unbegrenzten Fortschritts der Wissenschaften zu
widerlegen suchen (V.).
III. Delfico und die
Geschichtstheorien der europäischen Aufklärung
Delfico hat in einem Brief an seinen
Bruder im Januar 1806 die Brisanz und die Originalität seiner Pensieri
su l'Istoria betont: "Der Gegenstand ist geistreich und bisher von
niemandem in Gänze behandelt worden. [L'argomento è piccante e non
trattato ancora nella sua interezza da alcuno]."(37).
Auch auf den ersten Seiten des Buches betont er Originalität und
Selbstständigkeit seines Projekts, das über eine Synthese des überlieferten
Historischen Skeptizismus hinausgehe: "Ich will mich aber nicht der absoluten
Neuartigkeit solcher Betrachtungen über das geringe Verdienst der Geschichte
rühmen und so tun, als habe niemand sonst dies je gesehen. Meine Betrachtungen
sind tatsächlich spontan und durch Überlegung in mir entstanden, aber Zweifel
über die Wichtigkeit und Wahrheit der Geschichte kamen schon bei den Alten wie
auch bei den Modernen auf. Deren Reflexionen aber waren ephemer, okkasionell,
begrenzt und bezogen sich immer auf einen speziellen Gegenstand, statt das Thema
in seiner Allgemeinheit zu umfassen, und so blieben ihre Gedanken unbeachtet und
das Vorurteil wurde um so mehr bestätigt."(38) (A 2).
Was seine Quellen betrifft, so
hat, wie bereits erwähnt, schon Giovanni Gentile die Dominanz französischer
Einflüsse betont (39) und eine Reihe von französischen Quellen identifiziert.
Auch Venturi geht, mit Blick auf Delficos Moral-, Sozial- und
Geschichtsphilosophie insgesamt, von der starken Prägung durch die
philosophes aus, deren Denken Delfico, so gibt Venturi zu bedenken, radikal
vereinseitigt habe (40). Dieser Kautele Venturis ist beizupflichten, und in
diesem Zusammenhang ist auch unumwunden festzustellen, dass Delficos
Überlegungen zur Geschichte unter dem Niveau der von Chantal Grell und Bertrand
Binoche (41) untersuchten geschichtstheoretischen und geschichtsphilosophischen
Reflexion des französischen siècle des Lumières bleiben wie
sie auch nicht mehr die Schärfe und intellektuelle Brillanz des von Borghero und
Völkel untersuchten Historischen Pyrrhonismus des 17. und 18. Jahrhunderts
besitzen.
Folgende Quellen Delficos sind
vorrangig anzuführen: Die wohl wichtigste Anregung verdankte Delfico Volneys
Leçons d'histoire prononcées à l'École
normale en l'an III de la République
française (42), einer Schrift, der er attestiert, den 'analytischen Geist
[spirito di analisi]' in der Geschichtstheorie zur Geltung gebracht zu haben
(43), und die er verschiedentlich zitiert (44). Volney hatte den Historischen
Pyrrhonismus zwar in seine Reflexionen einbezogen, sich ihm aber nicht
angeschlossen. Der Hauptakzent seiner Vorlesungen hatte auf der Frage nach dem
Nutzen der Geschichte gelegen, und Volney hatte diesen bestätigt, indem er die
Geschichte als Faktor politischer Erziehung ansetzte.
Durchaus auch kritisch setzt
Delfico sich auseinander mit Condorcets kurz vor Volneys Vorlesungen und
gleichfalls unter dem unmittelbaren Eindruck der revolutionären Ereignisse
entstandener Esquisse d'un tableau historique des
progrès de l'esprit humain (45), aus der er eine
Passage ins Italienische übersetzt. Condorcets naturwissenschaftlich geprägte
spätaufklärerische Fortschrittsvision bildet eine wichtige Argumentationsvorgabe
Delficos; seine Skepsis gegenüber der Wissenschaftlichkeit der Geschichte bleibt
freilich unbeeindruckt vom positivistisch-optimistischen Geschichtsverständnis
Condorcets (46). Darüber hinaus bezieht Delfico sich kritisch auf Voltaire, und
zwar dessen Philosophie de l'histoire (47); unerwähnt
bleibt dessen Schrift Le pyrrhonisme de l'histoire
(1768). Unverkennbar, aber nicht explizit ist die Präsenz Bayles, der für den
Gesamtzusammenhang der Selbstbegründung der Geschichte von enormer Bedeutung und
in Italien im 18. Jahrhundert allgegenwärtig ist.
Zudem mag Delfico auf französischer
Seite Anregungen empfangen haben von Fontenelle, der 1720 Sur
l'histoire veröffentlicht hatte, Nicolas Fréret (Réflexions sur
l'étude des anciennes histoires et sur
le degré de certitude de leurs
preuves, 1724), D'Alembert und seinen Réflexions sur
l'histoire et sur les différentes manières
de l'écrire (48)
sowie Mablys Schriften De l'étude de l'histoire und
De la manière d'écrire l'histoire
(49) aus dem Jahre 1775/83.
Belegen lassen sich diese
denkbaren Einflüsse im Einzelnen freilich nicht. Gegenstand ausdrücklicher
Kritik ist die Wissenschaftsgeschichtsschreibung von Antoine-Yves Goguet wie die
von Juan Andrés (50). Unverkennbar ist die Reprise Rousseauscher Kritik an der
moralischen Instruktivität der Geschichte im vierten Buch des Émile (51).
Überraschend ist Delficos marginale, aber affirmative Bezugnahme auf Bossuets
Discours sur l'histoire universelle, der am Schluss des
langen destruktiven Unternehmens wie zufällig als Wegweiser aus dem Trümmerfeld
der Geschichte herausragt (52).
Philosophisch ist Delfico vom
Lockeschen Empirismus, insbesondere aber dem Condillacschen Sensualismus stark
beeinflusst worden, und in späteren Jahren sollte er dann auch in Kontakt zu den
Idéologues treten, speziell zu Destutt de Tracy, mit dem er 1816 korrespondierte
(53).
Was Delficos italienische Quellen
betrifft, die die neuere italienische Forschung ermittelt bzw. diskutiert hat,
so sind neben Vico (54) Pagano (55) und Galanti (56) zu nennen, allerdings
unabhängig von einschlägigen geschichtsskeptischen Aspekten. Diesbezüglich
beruft Delfico sich hingegen ausdrücklich auf Girolamo Tiraboschi, dessen
ursprünglich 1780 als Rede konzipierte Betrachtung Sull'autorità
degli storici contemporanei [Über die
Autorität der zeitgenössischen Historiker] er in
seinem Text ganz wiedergibt (57). Tiraboschi hatte sich hier sehr kritisch über
die Geschichtsschreibung des eigenen Zeitalters geäußert, das sich als
Aufklärungszeitalter verstanden wissen wolle, aber eine miserable und
parteiische Geschichtsschreibung hervorgebracht habe (58); zugleich hatte
Tiraboschi aber auch einem ‚gefährlichen allgemeinen Pyrrhonismus [pericoloso
universale pirronismo]' eine klare Absage erteilt. Von den weiteren
italienischen Quellen, die von der Forschung genannt werden, u. a. auch
einschlägige Schriften von Bettinelli und Bertola (59), ist eine - schwer
zugängliche - Schrift des Jakobiners Girolamo Bocalosi mit dem Titel
Dell'inutilità della storia [Über die
Nutzlosigkeit der Geschichte], die 1795 erschien und die
Delfico nachweislich besaß (60), hervorzuheben. Gianmaria Ortes' in den 1750er
Jahren entstandener Calcolo sopra la verità
dell'istoria [Historisches Wahrheitskalkül], "ein
ultrapyrrhonistisches Traktätchen [trattatello ultrapirronistico]", wurde
hingegen erst 1815 gedruckt und kommt daher als Quelle Delficos wohl nicht in
Frage (61).
Unter den englischen Quellen
Delficos ist es vor allen Bolingbroke, dessen Letters on the
Study and Use of History aus dem Jahre 1735,
zuerst erschienen 1752, er zitiert und diskutiert (62).
Ob Delfico auch deutsche bzw. ursprünglich deutschsprachige Abhandlungen zur
Theorie und Methodologie der Geschichte zur Kenntnis genommen hat, die er
möglicherweise in französischen Übersetzungen oder in einer lateinischen Fassung
gelesen haben könnte, lässt sich nicht ohne Weiteres klären; jedenfalls finden
sich in seiner Bibliothek weder Werke von Iselin noch von Chladenius oder
Gatterer.
Die epistemologischen und
methodologischen Betrachtungen über die Geschichte, die Delfico in seinen
Pensieri su l'Istoria entwickelt, rekurrieren, so ist an
dieser Stelle zunächst zu bilanzieren, auf rezente französische und italienische
Quellen - vor allem Volney, Condorcet, Tiraboschi, Bocalosi -, die sie aus der
Perspektive eines epigonalen Historischen Pyrrhonismus heraus deuten. Die
beiden Auswege aus der pyrrhonistischen Sackgasse, die sich im Verlaufe des 18.
Jahrhunderts eröffnet hatten: derjenige einer kritisch reflektierten
historischen Gelehrsamkeit (63)
und der einer konjekturalen und narrativen Historiografie, werden von Delfico
blockiert.
IV. Pensieri su l'Istoria e sull'incertezza
ed inutilità della medesima
Delfico stellt seinen Pensieri
eine Widmung "An die Gelehrten und an die Naturwissenschaftler [Ai dotti e agli
studiosi delle Scienze della Natura]" voran, er erwartet aber die ‚glücklichen
Fortschritte der Menschheit [felici progressi della specie]' in erster Linie von
den Naturwissenschaftlern. In der Privilegierung der Naturwissenschaften stimmt
der Neo-Naturalist Delfico mit Volney und Condorcet überein. An ein Vorwort
schließt sich ein erstes Kapitel an, das den Titel trägt: "Über den natürlichen
Ursprung der Geschichte, ihre Fortschritte und ihren Missbrauch [Dell'origine
naturale della storia e dei progressi ed abusi della medesima]", das zweite
Kapitel ist betitelt "Über die Ungewissheit der Geschichte [Della storica
incertezza]", das dritte "Über den mangelnden Nutzen der Geschichte und über die
Vorurteile und den Schaden, die sich daraus ergeben [Della inutilità della
storia e dei pregiudizi e danni derivati dalla medesima]", das vierte soll die
dargelegten Befunde an der Unzulänglichkeit der römischen Geschichte und
Geschichtsschreibung bestätigen und gegen deren falsche Idealisierung angehen:
"Bestätigung der dargelegten Prinzipien anhand von Beispielen aus der Geschichte
der römischen Republik [Verificazione degli antecedenti principj con esempi
tratti dalla storia della romana repubblica]". Es folgt eine Schlussbetrachtung,
die der storia zumindest den Bereich der Zeitgeschichte reserviert, deren
historiografische Erfassung Delfico für praktikabel und politisch nützlich hält
(64).
Delfico lässt die Genese der
Geschichte/Geschichtsschreibung als einer Bestandsaufnahme des Vergangenen mit
einer Unbefangenheit Revue passieren, welche seiner These, die
Geschichte/Geschichtsschreibung sei prinzipiell unzuverlässig und eine objektive
historische Rekonstruktion unmöglich, deutlich zuwiderläuft. Die Geschichte
entspricht, so argumentiert Delfico anthropologisch, einem menschlichen
Grundbedürfnis. Der Mensch ist stets und immer schon Erzähler, ein Erzähler
dessen, was ihm und seinesgleichen geschehen ist. Delfico deutet vage eine
Frühgeschichte der geschichtlichen Überlieferung vor Einführung der Schrift an
und zeigt hier deutlich seine sensualistische Prägung. Mündliche Überlieferung
und frühe Erinnerungskultur waren gleichermaßen unzuverlässig. Von Anfang an
haben 'Dichter-Historiker [storici poeti]' die geschichtliche Überlieferung
fiktional modelliert, und die riskante Nähe historiografischen Erzählens zur
Fiktionalität hat seither die Objektivität der storia ständig bedroht.
Delfico greift mit der Feststellung der Vermengung von Historiografie, Narration
und Fiktion einen Topos der skeptischen Geschichtsdebatten auf, der weit ins 17.
Jahrhundert zurückreicht, dann wieder verstärkt die Spätaufklärung beschäftigt
hatte und den wenig später die Poetik des historischen Romans und die
französische Restaurationshistoriografie sachlich vertiefen sollten. Auch die
Etablierung der Schriftkultur habe, so Delfico, die geschichtliche Überlieferung
keineswegs zuverlässiger gemacht. Der kirchliche Einfluss auf die
Geschichtsschreibung habe diese ebenso beeinträchtigt wie ihre politische
Indienstnahme durch die Mächtigen. Die Professionalisierung der Geschichte habe
ihr nicht genutzt, sondern geschadet, da sie mit Grammatica, Critica,
Genealogía, ja sogar Astrologie kontaminiert worden sei. Auch habe die
schon in der Antike begründete Rhetorisierung der Historiografie diese
schließlich immer weiter von "der Geschichte [...] in ihrer Wirklichkeit [la
Storia [...] nella sua realtà]" entfernt.
Rhetorik, literarische Fiktion und
psychologische Spekulation haben das Ethos des Historikers beschädigt, dem es
nur darum zu tun sein müsste, "das, was war [quel che fu]" zu überliefern (65).
Der Buchdruck habe eine Flut von historischen Schriften ausgelöst und die
Überproduktion von nutzlosen Genres wie Biografien und Regionalgeschichten
gefördert. Die Geschichte des Altertums, "der es nichts Neues hinzuzufügen gibt [dove
non vi sono novità d'aggiungere]", sei immer wieder umgeschrieben, mehr und mehr
verfälscht worden. Die Gelehrsamkeit habe sich in Quisquilien verzettelt, und
was die antiquarische Geschichtsschreibung als tesori und nuovi
tesori hüte, sei nichts weiter als Geschichtsplunder (66).
Die historische Gelehrsamkeit, die Delfico zufolge ohnehin nie eine
Existenzberechtigung besaß, da sie auf der falschen Annahme der
Wahrheitsfähigkeit geschichtlicher Erkenntnis beruhte, wird von ihm, in schon
deutlicher zeitlicher Distanz zum Niedergang des frühaufklärerischen
Gelehrsamkeitsideals, wie es sich in Italien mustergültig in Muratori verkörpert
hatte, und in Übereinstimmung mit der Absage der philosophes an alle
Formen bloßer Erudition (67)
noch einmal verabschiedet, mit Ausnahme der Acta eruditorum (68).
Keines der historiografischen
Verfahren, keines der Geschichtsmodelle, keine der Theorien historischer
Erkenntnis, die Delfico nennt und gegeneinander ausspielt, sind geeignet, die
Storia zu retten (69),
sie gewissermaßen in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen und sie,
gleichberechtigt neben den Naturwissenschaften, am großen Fortschrittsprojekt zu
beteiligen: "die Geschichte ist immer so geblieben, wie sie war, ohne sich zu
verbessern oder zu einem faktischen und realen Fortschritt der Wissenschaften
beizutragen. [la Storia è rimasta qual'era,
senza aver migliorato se stessa, o contribuito ad alcun positivo e reale
avanzamento delle scienze]"(70).
In Auseinandersetzung mit und Abgrenzung gegen Condorcet betont Delfico die
Unmöglichkeit, die Geschichtswissenschaft am experimentellen Paradigma der
Naturwissenschaften auszurichten: Weder Beobachtung noch Experiment können als
Methoden in der Geschichtswissenschaft eingesetzt werden, und diese hat es,
statt mit experimentellen Daten (71), mit undefinierbaren und kaum isolierbaren
"Fakten vergangener Zeiten [fatti dei tempi andati]"(72)
zu tun. Delfico, Anhänger des in Frankreich von Turgot bis Condorcet
propagierten Fortschrittsparadigmas und eines zeitspezifischen Szientismus,
klammert unter Rekurs auf Argumente des Historischen Pyrrhonismus die Geschichte
aus dem unendlichen Progress menschlichen Wissens aus.
Wenn die Geschichte sich nie hat
zur Wissenschaft hat objektivieren lassen (73),
wenn sie auch als philosophie de l'histoire und als
Wissenschaftsgeschichte (74)
gescheitert ist, so beruht diese in all ihren historischen Erscheinungsformen
und methodologischen Konfigurationen zutage tretende fundamentale
Unzulänglichkeit auf ihrem labilen epistemologischen Status, wie im zweiten
Kapitel unter der Überschrift "Über die Ungewissheit der Geschichte [Della
storica incertezza]" dargelegt wird. Zwar weist Delfico den Verdacht von sich,
dem "storico pirronismo" das Wort reden zu wollen: "Es ist gewiss nicht meine
Absicht, den Historischen Pyrrhonismus zu fördern [Non è già mio intendimento al
certo il promuovere lo storico pirronismo]"(75).
Doch macht er - an die einschlägigen Debatten über Überlieferungsrisiken und
Verifikationsmöglichkeiten anknüpfend - Autopsie, persönliche sinnliche
Vergewisserung zum Kriterium für Gewissheit und Objektivität, nur als
Augenzeugenbericht ist die Geschichte vollständig legitimiert. Darüber hinaus
gibt es für ihn kein[e] "positives Charakteristikum [positiva caratteristica]",
kein "Kriterium der historischen Wahrheit [criterio della verità storica]"(76),
was freilich die wesenhaft leichtgläubigen Menschen - ein Fontenellesches Motiv
- nie daran gehindert habe, der Geschichte vorbehaltlos Glauben zu schenken.
Entgegen der eigenen Beteuerung, keinesfalls dem Historischen Pyrrhonismus das
Wort reden zu wollen, schließt Delfico durchaus genau hier an: an der durch die
nachcartesische bzw. nachcartesianische Legitimationskrise der historischen
Wissenschaften ausgelösten Debatte über die Wahrheitsfähigkeit und
Wissenschaftsförmigkeit der Geschichte, die freilich in Italien im Zeichen Vicos
und Muratoris, der 1745 eine Schrift gegen den Historischen Pyrrhonismus und
Huet gerichtet hatte, wohl kein deutliches Profil hatte gewinnen können (77).
Über Möglichkeiten der
Vergewisserung räsonierend, rekurriert Delfico auf Vorschläge, die seit Arnauld,
Leibniz und Anderen diskutiert worden waren: Rationalisieren und objektivieren
lasse sich die historische Forschung, indem man Grade der historischen
Wahrscheinlichkeit definiere (78).
Damit erinnert Delfico an eine Debatte, die Grade der probabilitas
historica zu unterscheiden versucht hatte, er nennt aber keine Namen, weder
Leibniz noch Nicolas Fréret noch Volney; Carletti zufolge hat Delfico im Übrigen
ein Manuskript zum Verhältnis von Gewissheit [certezza] und historischer
Wahrscheinlichkeit [probabilità storica] hinterlassen (79).
"Es ist gewiss nicht etwa meine Absicht, den Historischen
Pyrrhonismus zu befördern. Da man aber die Geschichte als magistra vitae und
Klugheitslehre hat betrachten wollen, war es nur zu gerecht, darauf hinzuweisen,
wie unzuverlässig und trügerisch ihre Lehren wesensgemäß sein können und dass
man deshalb und auch aus anderen Gründen keinen wahren Nutzen aus ihr ableiten
kann."(80)
(A 8) Nicht nur deshalb, weil die Geschichte auf Grund ihres labilen
epistemologischen Status nicht in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu
bringen ist, weil historisches Wissen ungesichert, rhetorisch überformt,
fiktional kontaminiert ist, ist der Nutzen der Geschichte zu bestreiten. Der
Topos der Historia Magistra Vitae (81)
habe schon lange der erfahrungsbedingten Erkenntnis weichen müssen, dass die
Storia eine "sehr alte und sehr schlechte Lehrerin [antichissima ed
inefficacissima maestra]" (82)
ist. Zwar zeige sich in den Wechselfällen der Geschichte "Einförmigkeit der
menschlichen Gattung [l'uniforme organizzazione della specie]", und das ist ja,
wie Reinhart Koselleck gezeigt hat, die Voraussetzung für die Plausibilität des
Topos, für die Modellhaftigkeit der Geschichte (83).
Aber die Geschichte bleibt doch das Reich des Kontingenten und des Einzelnen,
aus dem sich, wie schon Guicciardini unterstrichen hatte (84),
keine Normen und Handlungsregeln ableiten lassen. Moral, die "wahre Wissenschaft
vom Menschen [vera scienza dell'uomo]", ist rational und apriorisch: "Die
Geschichte beschäftigt sich also mit Tatsachen, die weder direkt noch indirekt
Normen menschlicher Handlungen schaffen können. [La storia dunque si occupa di fatti i quali nè
direttamente nè indirettamente possono costituire le norme delle azioni umane]."
(85).
Ablesen lassen sich aus der Geschichte, dieser unbeteiligten Erzählung des
Schrecklichen (86),
nur Kriege, Verheerungen und Laster, so Delfico in Übereinstimmung u.a. mit
Rousseau, der dieses Argument gegen den Topos stark gemacht hatte. Die
Geschichte als Schlachtfeld, als Folge von Kriegen und Verwüstungen, erfordere
rationale Ursachenforschung. Statt sie vergeblich auf moralische und politische
Vorbilder zu durchmustern (87), möge man sich auf das Naturrecht besinnen, um
Moral und Politik, "die für den Menschen wichtigsten Wissenschaften [le scienze
le più importanti per l'uomo]" (88),
auf ein rationales Fundament zu stellen. Auf historische Exempla könne die Moral
im Übrigen durchaus verzichten: Das moralisch Schöne, das Rechte besitze
rationale Evidenz (89).
Volney, der die Geschichtstheorie
wie kein anderer vorangebracht habe, habe geirrt, als er die politische
Instruktivität der Geschichte behauptet habe (90).
Seine Stilisierung der Politik zu "sublimer Geschichtsmathematik [le
matematiche sublimi della storia]" sei unsinnig (91).
Unter keinem denkbaren Aspekt ließ sich der Geschichte ein Nutzen abgewinnen.
Die politische Funktionalisierung der Geschichte während der Revolutionsjahre
hatte deren Korruptibilität ad nauseam demonstriert.
V. Geschichte, Geschichtswissenschaft,
Fortschritt
Delfico hat am Rande auch die Semantik
des Begriffs la Storia angesprochen und dessen Polyvalenz betont
(92).
Die Äquivokation von Storia im Sinne dessen, was geschehen ist, und des
Berichts oder Wissens darüber, Äquivokation von Storia als Ereignis und
Erzählung oder als histoire einerseits und andererseits als Diskurs,
Narration oder histoire historienne, um einen terminologischen
Vorschlag von Bertrand Binoche aufzugreifen, ist Delfico an vielen Stellen
seiner Schrift als Metabasis unterlaufen; Umberto Carpi hat diesen
Programmierungsfehler in Delficos Schrift angedeutet: "Nicht immer unterscheidet
Delfico deutlich zwischen Geschichte und Historiografie", doch hat er
unverzüglich Entwarnung gegeben: "und das ist auch verständlich", so fährt er
fort (93).
Delficos pessimistische Sicht der Geschichte und seine Skepsis gegenüber der
Möglichkeit der Erkenntnis von Geschichte seien so eng miteinander verflochten,
dass die Stringenz der Argumentation durch die changierende Begriffsverwendung
nicht beeinträchtigt werde.
Reinhart Koselleck hat mit Blick
auf die deutsche Begriffsentwicklung gleichermaßen eingelenkt und die
Äquivokation des Begriffs Geschichte - das Sonderproblem Historie
und im Italienischen Istoria muss an dieser Stelle ausgeklammert werden
(94) -
in eine geschichtstheoretische Konvergenzfigur überführt: "Zwar meinte - seit
langem schon - die Geschichte auch den Bericht mit, wie umgekehrt Historie auch
das Ergebnis selber anzeigt. Das eine färbte das andere ein. Aber durch diese
gegenseitige Verschränkung, die Niebuhr vergeblich rückgängig machen wollte,
bildete sich im Deutschen ein eigentümlicher Schwerpunkt heraus [...].
<Geschichte> als Handlungszusammenhang ging in dessen Erkenntnis auf. Die
Droysensche Formel, daß Geschichte nur das Wissen ihrer sei, ist das Ergebnis
dieser Entwicklung."(95).
Delfico hatte geschrieben: "Die Geschichte lässt sich also
betrachten als jener Teil des menschlichen Wissens, der beständig
voranschreitet, aber sich niemals verbessert. Sie folgt dem jährlichen Lauf der
Sonne und zeigt uns nur unter immer neuen Namen Wiederholungen des
Altbekannten." (96)
(A 12). Hier scheint Delfico Storia im Sinne von histoire
historienne zu verwenden, und er behauptet, diese schreite beständig weiter,
schreibe sich gewissermaßen ständig fort, entsprechend der simplen Akkumulation
von historischer Erfahrung - aber als Wissen und als Wissenschaft verbessere sie
sich nicht. Sie zeige Geschichte als ewige Wiederkehr des Immergleichen. Was in
der Geschichte, der histoire, geschah und geschieht, ist - dies läuft den
durchaus vorhandenen melioristischen Komponenten von Delficos Geschichtsbild
offenkundig zuwider - das Immergleiche, "die kontinuierliche oder sukzessive
Wiederholung derselben Dinge und Handlungen unter unterschiedlichen Namen und zu
unterschiedlichen Zeiten [la ripetizione continua o successiva delle stesse cose
ed azioni sotto nomi e tempi diversi]" (97).
Die histoire historienne aber wäre genau dies, wenn sie die um
ihre progressiven Tendenzen gekürzte histoire getreu wiedergäbe.
Delficos Geschichtskonzeption
ist, so ist zu bilanzieren, einerseits optimistisch, andererseits pessimistisch,
sie ist zutiefst widersprüchlich. Konstitutives Element seiner optimistischen
Geschichtssicht und Fortschrittstheorie ist ein umfassender Szientismus, der am
naturwissenschaftlichen Paradigma ausgerichtet ist. In scharfem Gegensatz zu
diesem Szientismus steht sein Historischer Pyrrhonismus, der die Möglichkeit
einer Wissenschaft von der Geschichte rigoros bestreitet. Die histoire
historienne müsste (auch) Fortschrittsgeschichte sein (98)
und hat hier versagt. Sie müsste speziell die Fortschritte der Wissenschaften
als Wissenschaftsgeschichte registrieren, und auch in dieser Funktion hat sie
versagt (99).
Sie konnte und kann sich aus prinzipiellen, erkenntnistheoretisch einleuchtenden
Gründen nicht als Wissenschaft konstituieren und a forteriori
nicht am allgemeinen Fortschritt der Wissenschaften partizipieren (100).
In der Geschichtsbetrachtung
verliere man sich, so hat - nicht als Erster und nicht als Letzter - Delfico
geschrieben, gerade so wie in der Betrachtung des endlosen Spiels der Wellen
(101).
Der Blick auf die gleichförmige Oberfläche des Meeres aber lehrt den Skeptiker –
so schon Timon von Phleius und Sextus Empiricus – Ataraxie.
Gisela Schlüter, Erlangen
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